Zeichen

Der Himmel stand in Flammen, während feuriger Regen auf die kalte, schwarze Erde niederprasselte. Ein Knabe schrie laut vor Angst und presste seinen Kopf an die Brust seiner Mutter. Sie hielt ihn schützend mit beiden Armen umschlungen, während sie den grossen Feuerbällen auswich, welche der Himmel auf das Land hinabwarf. Das kleine Tal, das sie erst seit kurzem Heimat nannten, war trotz des dichten Rauches in tödlichem Rot erhellt. An vielen Stellen glühte das himmlische Feuer am Boden liegend weiter vor sich hin. Es verzehrte die Erde und frass tiefe Löcher in diesen hinein.
Die Frau hatte Tränen in den Augen. Vielleicht müsste man sie dem beissenden Rauch zuschreiben, welcher diese so stark reizte, dass sie schon ganz rot waren. Viel eher waren diese Tränen wohl aber ein stummer Ausdruck der Resignation und verlorenen Hoffnung. Dieses Mal sollte alles besser werden. Dieses Mal würde der Himmel sie in Ruhe lassen. Dieses Mal sollten sie in Frieden leben können. Doch ein weiteres Mal wurde dieser Wunsch zunichte gemacht. Ein weiteres Mal wird der Stamm weiterziehen müssen. Eine weitere gefahrenvolle Reise ins nirgendwo war die unweigerliche Konsequenz dieses Regens.
Erneut brachte der Aufschlag einer grösseren Feuerkugel die Erde zum Beben. Ein Funkengeysir stieg aus dem Einschlagskrater auf. Die glimmenden Partikel wurden von einem heftigen Windstoss erfasst und in Richtung der Mutter mit ihrem Kind getragen. Wie versteinert starrte sie auf die orange leuchtende Feuerwand, welche sich ihnen mit grosser Geschwindigkeit näherte. Im Kopf der Frau jagte ein Gedanke den nächsten. War das Kind sicher? Sie hatte ihn zwar gut in das wenige Fell eingewickelt, welches sie dabei hatte, als sie mit ihrem Sohn am Bach Wasser schöpfte und der Himmel zu zürnen begann. Aber würde das reichen? Dass sie jetzt völlig nackt und ungeschützt war, hatte keine Bedeutung. Ihrem Sohn durfte nichts passieren. So stellte sie sich instinktiv mit dem Rücken zur herangetragenen Feuerwelle und kauerte sich schützend über den Knaben. Und dann fegte das Feuer über die beiden hinweg. Die Frau schrie vor Schmerz und der Knabe schrie, weil er die Schreie seiner Mutter nicht ertragen konnte.
Der Wind blies das Feuer weiter, die Schmerzen schwanden und in gleichen Masse gewann die Frau wieder an klarem Geiste. Sie fuhr sich reflexartig durchs Haar und schüttelte das Feuer heraus, das sich darin verfangen hatte. Auch wenn der Rauch ihr beissend in die Nase stieg, so vermochte er doch nicht zu überdecken, dass der intensive Geruch von verbranntem Haar sie umgab. Ihr Haupt und ihr Rücken schmerzten, doch das war nicht wichtig. Sie musst den Knaben, so schnell wie möglich in die schützende Höhle bringen, die ihr Stamm seit der Ankunft im Tal bewohnte. So schnell es ging, kletterte sie zwischen schroffen, aus dem Boden ragenden Felsnadeln einen steilen Abhang hinauf. Einige Male verlor sie ihr Gleichgewicht, als das herumliegende Geröll unter ihren Füssen wegrutschte. Doch wenn sie fiel, stand sie schon kurz darauf wieder. Von Zeit zu Zeit schaute sie zum Himmel. Der Rauch war zu dicht, als dass man die Feuerbälle hätte sehen können. Sehr wohl aber hörte man sie zahlreich im Tal einschlagen.
Endlich erreichte Frau den schmalen Durchgang, welcher in eine kleinere Höhle führte, welche durch zwei auseinanderklaffenden Steinplatten geformt wurde. Ausser Atem setzte sie ihren Sohn ab, bevor sie ihre Kräfte verliessen und sie auf der Stelle zusammensackte. Doch auch wenn ihr Körper von den Strapazen des Heimwegs völlig erschöpft war, so blieb ihr Geist dennoch wach und rege. Sie blickt in die von einem kleinen Feuer spärlich erhellte Höhle. Die Leute hatten sich aus Angst in die hintersten Ecken zurückgezogen. Auch wenn viele verängstigte Augenpaare in Richtung Ausgang blickten, so waren es nicht so viele, wie es hätten sein sollen. Etliche hatten den Rückweg also nicht geschafft. Und als sich ihre Blicke mit den fragenden Blicken eines Mädchens kreuzten, konnte sie nicht umhin möglichst schnell wegzuschauen.
„Mama, du musst aufstehen. Ozhang will dich sprechen. Er schaut schon ganz beunruhig herüber.“ Der Knabe hatte sich aus seinem pelzigen Schutzmantel herausgeschält und stand nun neben seiner Mutter. Sein Hand griff nach derjenigen seiner Mutter, als ob er nun sie hätte führen wollen, nachdem sie ihn durchs Feuer getragen hatte. Sie seufzte, aber sie lächelte als sich die kleinen Finger um einen Teil ihrer Hand griffen und sie fortzuziehen versuchten. Das war ihr Sohn! Er war der Grund weshalb sie das Leben noch nicht aufgegeben hatte. Er war es, der sie immer weiter antrieb. Und auch dieses Mal, so schien es, war es ihr Sohn, der ihr die Kraft gab, sie wieder aufzurichten und zum Schamanen zu gehen.
„Hast du Nachricht von den anderen, Bakiko?“ Die Stimme des Schamanen trug einen merklich besorgten Unterton. Doch Bakiko schüttelte nur traurig den Kopf, während sie die Hand ihres Sohnes fester griff, um sicher zu gehen, dass zumindest er wirklich da war. Auch wenn Ozhang es nicht wirklich erwartet hatte, so stand ihm die Enttäuschung sichtbar ins Gesicht geschrieben. Wie gerne hätte Bakiko ihm andere Nachricht überbracht, aber was für einen Zweck hätte eine Lüge schon gehabt? Vielleicht hätte sie in diesem Moment Ozhang einen kleinen Schmerz genommen, ihm dafür bald schon mit der Wahrheit einen viel grösseren Schmerz zugefügt. Nein, das wollte sie nicht. Dafür hatte sie viel zu viel Respekt vor diesem Mann. Nicht ohne Grund, war er der einzige, dem sie sich freiwillig hingegeben hatte, während sie den anderen Männern einfach nur das Recht des Beischlafes eingeräumt hatte, weil sie stärker waren. Es war einfach eine Tatsache, dass sich die Frauen in der Sippe der Lust der Männer hinzugeben hatten – egal wem. Oftmals war dies eine unerfreuliche Angelegenheit, doch bei Ozhang war das anders. Gerne dachte Bakiko an jenes eine Mal zurück, als sie mit dem damals noch jungen Mann geschlafen hatte. Er war noch nicht Schamane und sie war noch nicht Mutter. Doch das ist schon lange vorbei.
„Bakiko?“ Ozhangs Stimme holte Bakiko aus ihren Gedanken zurück. „Ist schon gut, du konntest ja nichts machen. Du musstest dich um Mituru kümmern. Ich verstehe das.“ Dieser Satz traf genau Bakikos Herz. Ja, sie war einfach losgerannt, als sich der Himmel zu verfärben begann, sie griff sich ihren Sohn und rannte los. Auch alle anderen sind losgerannt. Niemand hatte darauf geachtet, ob noch jemand zurückge-blieben war. Bakiko hatte das schlimme Gefühl, dass dabei nicht nur jemand vergessen ging, auch wenn ihr keine Gesichter oder Namen in den Sinn kamen. Und als dann die ersten Feuerbälle vom Himmel fielen, hatte sie nicht nach links und nach rechst geschaut. Auch niemand sonst hatte nach links und nach rechts geschaut. Bakiko hatte jetzt aber das Gefühl, die Schreie von einigen anderen in ihren Erinnerungen nachhallen zu hören. Sie erschauderte. Ihr Sohn war das wichtigste, doch hätte sie nicht noch mehr Leute ihres Stammes zurückbringen können? Hätte sie nicht mindesten dem einen oder anderen Kind den Verlust seiner Mutter ersparen können? Bakiko war zu sehr in Gedanken versunken um zu merken, dass sie sich so stark auf die Unterlippe biss, dass diese zu bluten begann.
„Bakiko!“ Erneut riss sie der Ruf des Schamanen aus ihren Gedanken. „Du kannst jetzt zu den anderen gehen.“
Die Frau schüttelte nur langsam ihren Kopf. „Ich muss wieder da raus. Vielleicht kann ich dem einen oder der anderen behilflich sein. Vielleicht sind sie noch am Leben.“
„Sei keine Närrin!“ Ozhangs Stimme klang zornig und besorgt zugleich. „Du kannst da draussen niemandem mehr helfen. Wenn sie sich nicht unterstellen konnten, so sind sie jetzt sicherlich schon tot. Gehst du da raus, so wirst du nur ein ähnliches Ende finden wie deine Mutter damals. Und bedenke Mituru braucht dich noch!“
Diese Tatsachen konnte Bakiko nicht verleugnen. Wie ein Kind, welches nicht zugeben will, dass ein Erwachsene recht hat, wandte sie ihren Kopf ab und blickte eine Weile auf den Boden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm sie dann ihren Sohn und ging mit ihm zu den anderen hinüber. Ihre Gedanken befanden sich aber ausserhalb der Höhle. Viele Männer und Frauen fanden in den Flammen den Tod, wie schon in all den Malen zuvor, welche sie miterlebt hatte. Bakiko legte ihren Sohn zum schlafen auf ein Graslager und deckte ihn mit einem der Fell zu. Eigentlich wollte sie sich etwas zu ihrem Kind legen um zu warten, dass die Schmerzen vergingen, welche die Verbrennungen verursachten. Doch schon kurz nachdem das gleichmässige Atmen ihres Sohnes ihr verriet, dass dieses jetzt schliefe, erhob sie sich und setzte sich an den Eingang. Draussen fiel immer noch Feuer vom Himmel.

Wie lange Bakiko dort am Eingang sass, konnte sie nur schwer schätzen. Das Zählen der dumpfen Einschläge, welche zuweilen auch die gesamte Höhle erschütterten, überstieg ihre Kenntnis der Zahlen bei weitem. Dafür bemerkte sie jede Änderung in ihrem Umfeld, ohne auch wirklich hinsehen zu müssen. So wusste sie, dass Ozhang schon vor geraumer Zeit hinter sie in die Nähe des Eingangs getreten war, auch wenn er es nicht für nötig befand, sich bemerkbar zu machen. Genauso bemerkte sie nach einer schier endlosen Zeit des Wartens, dass der Feuersturm aufgehört haben musste. Zwar war immer noch alles in Rauch und tödliches Orange gehüllt, doch hatten die Erschütterungen der Einschläge aufgehört. Bakiko erhob sich.
„Bakiko, was hast du vor? Du wirst dort draussen niemanden mehr finden.“ Ozhang schien zu ahnen, was die Frau zu tun gedachte. „Eine solche Stille ist trügerisch. Du weisst, dass der Feuerregen zurückkehren kann.“
Bakiko drehte sich um und sah den Schamanen mit durchdringendem Blick an. „Mag sein, dass sie alle gestorben, doch wenn ich es nicht versuche, werde ich es niemals mit Sicherheit wissen. Doch nicht die Toten sind der Grund, weshalb, ich so schnell als möglich da raus muss. Wir haben fast keine Vorräte. Als wir in dieses Tal kamen, schien aufgrund der Fülle an Nahrung so was nicht wichtig. Doch sollen wir jetzt weiterziehen, brauchen wir jede Wurzel, welche noch da draussen vergraben liegt. Warten wir noch lange zu, so wird das vom Himmel gefallene Feuer alle Wurzeln vernichtet haben.“
„Du hast recht. Die uns bevorstehende Reise wird von Entbehrungen und Strapazen gezeichnet sein. Die knappen Nahrungsmittel werden nur ein Teil davon sein. Gut möglich, dass wir dabei den einen oder anderen verliegen. So ist das Leben. Doch will ich niemanden verlieren, der unbesonnen sein Leben in einem Feuersturm aufs Spiel setzt. Vor allem nicht jemand, der einen verbrannten Rücken und ein verbranntes Haupt besitzt. Du wirst dich nicht nach da draussen begeben, bevor das orange Feuer erloschen ist.“ Mit diesen Worten stellte sich Ozhang vor Bakiko in den Eingang. Seine Arme streckte er leicht zur Seite, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass er Bakiko nicht an sich vorbeiziehen lassen werde.
„Ozhang, ich bitte dich! Die Reise wird schneller zu ende sein, als dir lieb ist, wenn wir nicht zumindest für den Anfang genügen Essen bereitstellen können.“ Bakiko trat an den Schamanen heran und drückte einer Kraft gegen Ozhangs Arm, die er niemals erwarte hätte. „Ausserdem ist inzwischen Wind aufgekommen, der den Rauch bereits wieder davonträgt.“
Ozhang war einen Blick nach draussen und sah, dass der Rauch tatsächlich von einem heftigen Wind so sehr weggeblasen wurde, dass man schon fast die Hälfte des Abhangs überblicken konnte. Ein kleiner Moment der Unentschlossenheit Ozhangs genügte der Frau um, seinen Arm ganz zur Seite zu drücken und sich ins Freie hinaus zu begeben. Reflexartig, versuchte Ozhang sie festzuhalten. Doch sie wich ihm geschickt aus, so dass seine Hand ins Leere griff. Und dann war sie auch schon die ersten paar Schritte den Abhang hinunter geeilt.
Ozhang fluchte leise vor sich hin, während er sich für kurze Zeit überlegte, ihr nachzueilen. Er hätte sie wohl leicht eingeholt und festhalten können, doch durfte er die Höhle um keinen Preis verlassen. Sein Nachfolger wusste noch viel zu wenig, um all die Pflichten wahrnehmen zu können, die einem Schamanen auferlegt sind. Er würde mit einer solch törichten Tat den Stamm unter umständen zu Tode verurteilen. Dies konnte er nicht riskieren. Stattdessen schrie er ihr verzweifelt nach: „Bakiko! Kehre sofort zurück!“
Als ihre Konturen im Rauch aber immer schlechter wahrzunehmen waren, wandte sich Ozhang vom Eingang ab. Sein Blick schweifte ziellos durch die Höhle, über all die Leute, welche ihn ohne Zweifel bei diesem Disput beobachtet hatten. Und in diesem Moment fiel ihm erst auf, dass ihn Mituru mit grossen Augen wohl schon eine geraume Weile fragend ansah. Noch weniger, als dem Blick der Mutter, konnte er jenem des Kindes stand halten. Auch wenn Ozhang nicht sagen konnte, weshalb, so hatte er das Gefühl, dass es etwas eigenartig Vertrautes sein muss.
Einen letzten flüchtigen Blick über die Schulter werfend, schickte sich Ozhang an, wieder zu seinem Platz auf der anderen Seite der Höhle zu gehen. Da erschütterte ein mächtiges Beben die gesamte Höhle. Reflexartig drehte sich der Schamane wieder zurück zum Eingang. Draussen war alles in neu erstarktes, feuriges Orange gehüllt. Die Quelle war ein riesiger Feuerball, welcher genau dort zur Erde viel, wo er Bakiko noch wenige Augenblicke zuvor hat stehen sehen.
Ozhang war der Meinung, dass er nun irgendwas fühlen müsste; Zorn, dass sie da raus gegangen ist. Hass, dass er sie nicht aufgehalten hat. Trauer, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Doch irritierender Weise fühlte er absolut nichts. Nur Leere. Und dann lief jemand weiteres an ihm vorbei. Mituru.
„Kind, bleib hier!“ Ozhang’s Forderung muss sehr schroff geklungen haben, denn der Knabe zuckte zusammen, während er noch ein paar Schritte brauchte um anzuhalten, und sich umzudrehen. Der Schamane bemühte sich eines freundlicheren Tonfalls: „Du wirst deine Mutter, da draussen nicht mehr finden. Sie ist tot.“
Der Schamane hatte nicht erwartet, dass das Kind die Bedeutung seiner Worte versteht, doch schien der Knabe ganz genau verstanden zu haben. Er schüttelt trotzig den Kopf. „Nein, meine Mutter ist nicht tot.“
Wieder sah der Junge ihn durchdringend an. Vor dem feurigen Hintergrund schien der Junge noch viel mehr Einfluss auf ihn zu haben. Der Schamane musste sich richtiggehend anstrengen um zu sprechen: „Komm zurück, Mituru. Komm zurück in die Höhle.“
„Nur zusammen mit meiner Mutter.“ Trotz seines Alters liess sich der Knabe offenbar nichts sagen. Viel mehr sah er weiterhin Ozhang mit diesem eigenartigen Blick an.
Und was dann geschah, konnte sich Ozhang bis ans Ende seiner Tage nie genau erklären. Er machte sich wegen seiner Leichtfertigkeit auch bis dahin Vorwürfe. Denn seine gesamten Bedenken in den Wind schlagend, hörte er sich plötzlich antworten: „Na gut, dann gehen wir beide sie suchen.“ Mit diesen Worten verliess er die Höhle, nahm den Jungen an der Hand und sie stiegen gemeinsam den aufs Neue in dicken Rauch gehüllten Abhang hinunter.
Die Szenerie war unwirklich. Irgendwo in nicht allzu grosser Ferne führten Einschläge, weiterer Feuerbälle zu bebendem Untergrund, den auch Mituru und Ozhang zu spüren bekamen. Links und rechts von ihnen rutschte Geröll weg. Sie wählten ihren Weg geschickt dazwischen. Alsbald kamen sie an jene Stelle, an welcher Ozhang Bakiko zum letzten Mal gesehen hatte. Der eingeschlagene Feuerball hatte einen beträchtlichen Krater im Abhang hinterlassen, aus welchem Flammen emporloderten. Aber auch rund herum brannte und glühte die Erde überall dort, wo Bruchstücke des himmlischen Feuers aufgetroffen waren. Kein Grashalm, kein verkrüppeltes Gebüsch, auch kein noch so kleines Überbleibsel eines Baumes konnte mehr ausgemacht werden. Wo das Feuer hingefallen war, war längst alles verbrannt, was normale Flammen verzeh-ren konnten. Doch diese Flammen mach-ten auch vor Erde und Stein nicht halt.
Ozhang hatte kaum Hoffnung auch nur noch die Überreste Bakikos zu finden. Doch schon nach kurzer Zeit des Suchens zwischen den schroffen Felsen, konnte er durch den dicken Rauch in eine kleinen Grube die Konturen eines Menschen ausmachen. „Mituru, da vorne liegt jemand. Ich gehe kurz schauen und du wartest hier.“ Falls dies wirklich Bakiko wäre, so sollte der Kleine ihre Überreste nicht sehen. Nein, er sollte seine Mutter so in Erinnerung behalten, wie der Schamane dies auch tun würde: als hilfsbereite Schönheit.
Die letzten paar Schritte durch den Raum brauchten einige Überwindung. Der Knabe war unerwarteter Weise ohne Protest zurückgeblieben, blickte ihm aber vermutlich immer noch nach. So trat Ozhang an die kleine Senke heran und fand seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Auch wenn Bakikos Gesicht von Blut verschmiert war, das aus einer Wunde an der Stirn geronnen war, so waren ihre Züge doch unverkennbar. Ihr Schicksal war anhand der Wunden nicht allzu schwer zu erraten. Die Frau muss vom Einschlag des Feuerballes überrascht worden sein. Dieser traf ganz in ihrer Nähe auf den Boden und schleuderte wohl viele Geröll durch die Luft. Zwei dieser Steine müssen die Frau getroffen haben. Einer traf auf den linken Oberarm, bohrte sich dort durch seine Wucht in Fleisch und brach den Arm, welcher in einem sehr unnatürlichen Winkel vom Körper weggestreckt war. Der zweite schrammte über ihren Kopf und hinterliess dabei eine klaffende Wunde durch welche man einen Teil des Schädels sehen konnte, der durch den Aufprall auch ein wenig eingedrückt war. Aus allen Wunden musste viel Blut geflossen sein, das aber aufgrund der Hitze jetzt nicht mehr als eine braune Kruste war. Ozhang wandte seinen Kopf in Schmerz ab. Er hatte schon zuviel gesehen um nicht zu wissen, dass Bakiko tot war.
„Komm Junge, ich hab deine Mutter gefunden, es gibt nichts, was wir noch für sie tun können. Sie ist tot.“ Ozhangs Hand griff nach Miturus Arm. „Lass uns in die sichere Höhle zurückkehren.“
„Du hast nicht richtig geschaut. Sie ist nicht tot!“ Mit diesen Worten, windete sich Mituru aus Ozhangs Griff und rannte in Richtung seiner Mutter.
Der von der Handlung des Jungen überraschte Schamane bliebt zunächst stehen. Er spürte in sich ein Gefühl der Unsicherheit aufsteigen. Was sollte er tun, was sollte er sagen, wenn er zum Jungen ging? Obwohl er auf diese Fragen noch keine Antwort wusste, schritt er, wenn auch nur zögerlich, in Miturus Richtung. Hier draussen konnte jeden Moment ein weiterer Feuerball einschlagen.
Mituru hatte sich neben dem Kopf seiner Mutter niedergekniet, als Ozhang bei den beiden Eintraf. Der Junge hatte inzwischen ebenfalls grosse Teile der Blutkrusten vom Gesicht und Oberkörper seiner Mutter weggekratzt und den Arm wieder in die richtige Position gelegt. Bakikos Kopf hatte er etwas zur Seite gedreht, so dass er direkt in ihr Ohr sprechen konnte, jetzt da er sich über sie gebeugt hatte. „Du bist nicht tot. Ich will nicht, dass du tot bist. Du wirst erst dann, nicht mehr da sein, wenn ich dich nicht mehr brauche. Du lebst noch solange, bis ich dir zu sterben erlaube!“ In diesem Stil, mit immer etwas anderen Worten redete Mituru auf den leblosen Körper ein.
Ozhang versuchte zunächst den Jungen mit Worten dazu zu bewegen, sich von seiner Mutter zu lösen. Doch als ihn der Junge standhaft ignorierte, griff er erneut nach dem Jungen. Auch dieses Mal löste sich der Junge aus Ozhangs Griff, während er wie wild schrie. Niemand sollte ihn von seiner Mutter trennen.
Da durchfuhr es Ozhang eiskalt. Bakikos Augen standen offen und starrten ihn durchdringend an. Die Lider waren noch kurz davor aber geschlossen. So etwas fiel Ozhang auf. Ohne weiter zu überlegen, was er tat, griff der Schamane nach dem Körper der Frau, warf sie sich über die Schulter und eilte zurück in die Höhle. Mituru folgte ihm auf den Fuss.

Einen solch herrlichen Tag hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Bakiko sass auf einem grossen Stein neben einem Wasserlauf und schaute zwei kleinen Fischen zu, die munter darin herumschwammen. Die Wunden jenes schicksalhaften Tages waren inzwischen vernarbt. Ihr Rücken war inzwischen ein Meer von Kratern, die an die vom Feuerregen zerstörten Landschaften erinnerten, doch das war nicht wichtig. Die Narben am Kopf waren zwar riesig, doch überdeckten sie jetzt schon die nachwachsenden Haare. Trotzdem würde man sie wohl auch in Zukunft noch ohne weiteres wahrnehmen können. Sie würde nie wieder so schön aussehen, wie vor jenen Ereignissen. Doch dies kümmerte sie wenig. Sie hatte ihren Sohn und war mächtig stolz auf ihn. Denn hätte er nicht so sehr nach ihr gesucht, so wäre sie mit Sicherheit gestorben. Diesen Sohn, so hatte sich Bakiko geschworen, werde sie nie wieder im Stich lassen – oder in eine ähnliche Situation bringen.
Das Geräusch eines knickenden Astes, riss Bakiko aus ihren Träumen. Sie drehte sich um. Ozhang stieg die Böschung an den Fluss hinunter. Man sah ihm die Müdigkeit an, welche die Strapazen der vergangenen Tage verursacht hatten. „Wir haben noch eine zweite, etwas grössere Höhle gefunden. Jetzt hat es reichlich Platz für alle. Die Reise ist nun definitiv zu Ende.“ Mit diesen Worten liess er sich erschöpf neben Bakiko ins Gras fallen, welches den Bachlauf säumte. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen blickte auch er dann ins Wasser, wo er vorbeischwimmenden Blättern zuschaute. Bakiko sagte nichts.
Eine geraume Weile sassen die beiden so nebeneinander, bevor Ozhang das Schweigen brach. „Wie geht es dir?“ Als Bakiko kein Anstalten machte, die Frage zu beantworten, fügte er hinzu: „Ich sah doch, wie du auf der Reise gelitten hast. Ich verstehe immer noch nicht, dass es dir trotz der Wunden möglich war, am Tag nach dem Feuerregen aufzustehen und mit uns zu ziehen. Dass ein solcher Akt nur unter grossen Schmerzen möglich war, weiss ich nur allzu gut.“
Bakiko schenkte Ozhang ein mildes Lächeln: „Wir hatten keine andere Wahl. Wären wir nicht aufgebrochen, wären uns die Nahrungsmittel ausgegangen. Und den Weg der letzten Tage ohne Nahrungsmittel hätte leicht eine Reise in den Tod werden können. Der Aufbruch musste sein.“
Ozhang wusste nur zu gut, dass sie recht hatte. Doch wenn er sich an die Zeichen von Bakikos Körper an jenem Tag erinnerte, welche von schier unerträglichen Schmerzen berichteten, so fühlte er ein beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. Aber auch Ehrfurcht und Bewunderung konnte er nicht verleugnen.
„Und ausserdem“ fuhr Bakiko fort, ohne zu merken, dass ihr Zuhörer mit den Gedanken gerade an einem anderen Ort weilte „hatte ich Mituru. Er nahm mich damals an der Hand und führte mich. Wenn er redete, vergass ich die Schmerzen. Und hatte ihn noch nie soviel reden hören. Die Kraft, welche er mir gab, die wirkte Wunder.“
Plötzlich sah der Schamane Bakiko mit einem eigenartigen Blick an. Sie verstummte, denn diesen unergründlichen Gesichtsausdruck setzte er nur auf, wenn er Dinge zu berichten hatte, die von grosser Tragweite waren. Sie kannte Ozhang nur allzu gut um sich auf schlimme Nachrichten gefasst zu machen: Tod, Krankheit, vernichtete Nahrungsmittel? Doch nichts dergleichen sollte es sein. „Genau wegen deinem Sohn bin ich hier.“ Ozhang holte nochmals tief Luft, bevor er sein Anliegen äusserte: „Ich will ihn zu einem Schamanen ausbilden.“
Der Schamane sah die Frau durchdringend an. Er wusste, dass es für jede andere Frau seines Stammes eine Ehre gewesen wären ihr Kind auserwählt zu sehen, eines Tages den Stamm zu führen. Er wusste aber auch, dass Bakiko darüber anders dachte. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn für seine Arbeit bewunderte, ihn aber als Menschen bedauerte. Er erinnerte sich noch gut daran, was sie ihm in der Nacht vor seiner Weihe an den Kopf geworfen hatte. „Du hast die Macht zu entscheiden und alle werden dir folgen. Doch musst du immer für alle da sein. Ein Toter in der Sippe ist nicht nur der schmerzliche Verlust eines Menschen, sondern auch ein Teil von dir. Und wenn eine deiner Entscheidungen zum Nachteil des Stammes führt – wirst du damit leben können?“ Noch musste er diese Frage nie beantworten. Glücklicherweise. Denn er war mit seiner Aufgabe zufrieden – ja gar glücklich. Nur in Bakikos Nähe stellte er das alles ab und zu in Frage.
„Es waren gerade jene Ereignisse, von denen du gesprochen hast, die mich zu diesem Entschluss kommen liessen“, redete der Schamane auf die Frau ein, welche ihn nur verständnislos anstarrte. „Mituru ist etwas besonderes, Bakiko. Ich kenne kein Kind, welches so mutig, entschlossen und einfühlsam gehandelt hätte, wie dein Sohn an dem Tag des Feuerregens. Ich weiss was ich damals erlebt hatte, doch kann ich es mir nicht ganz erklären. Die Zeichen versprechen ihm aber eine grosse Zukunft. Lass mich ihm diesen Weg zeigen.“
Für einige Zeit schwiegen sich die beiden an. „Du hast bereit schon einen Schüler“, meinte Bakiko nach einiger Zeit, sichtlich erleichtert ein schlagfertiges Argument gefunden zu haben, weshalb ihr Sohn sicherlich nicht diese Laufbahn einschlagen kann. „Habe ich ja, aber ich sehe kein Problem darin, einen zweiten Schüler zu nehmen. Nur weil es eine Tradition ist, brauche ich deshalb doch keine guten Nachfolger wegzuweisen“, entgegnete Ozhang.
„Denkst du nicht, dass diese Tradition durchaus ihre Berechtigung hat? Wenn zwei Schamanen da sind, wird nur einer den Stamm übernehmen können. Es wird zu einem Kampf kommen – das ist ver-antwortungslos!“ ereiferte sich Bakiko.
„Nein! Verantwortungslos ist es das Wissen des Schamanen nur einer Person anzuvertrauen. Was wenn dieser stirbt? Sein Nachfolger, selbst wenn er ihn sofort nach der Weihe ausgesucht hatte, wird nur einen Bruchteil dessen können, was nötig ist einen Stamm zu führen. Wenn du mich fragst, so hatten wir einfach Glück, dass mir bis anhin nichts zugestossen ist. Und was den befürchteten Kampf angeht, so gedenke ich noch eine geraume Zeit dem Stamm vorzustehen. Dann werde ich sehen welcher der beiden Schüler sich dieses Amtes würdiger erweist. Einen Kampf soll es nicht geben. Denn ich werde meine Nachfolge persönlich bekannt geben.“ Ozhang blickte Bakiko tief in diese Augen. „Alles worum ich dich bitte, ist jenem Schicksal, welches sich Mituru durch die Ereignisse im Feuerregen selbst ausgesucht hatte, nicht im Wege zu stehen.“
Wieder schwieg Bakiko eine Weile. Sie wusste nur zu gut, dass Ozhang wohl recht hatte. Schweren Herzens traff sie eine Entscheidung: „Wir wollen Mituru fragen. Solange er es für richtig hält, soll er dein Schüler sein. Doch an jenem Tag, an dem er sich dagegen entscheidet, wirst du ihn ohne Widerrede ziehen lassen.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen erhob sich Ozhang von seinem Sitzplatz streckte Bakiko die Hand hin: „Einverstanden. Dann lass uns dem jungen Mann eine Frage stellen.“