Fragen und Antworten

Als Umagu die Augen aufschlug, war der Wald verschwunden. Der üppige Duft des Waldes war demjenigen von reinem Wind gewichen. Der weiche Boden war hart und das Blau des Himmels war überall. Auch das wundervolle Wesen war, genauso wie die Schmerzen, verschwunden.
Umagu drehte sich auf ihrem Lager zur Seite und erblickte neben sich die verzerrte Fratze eines schwarzen, wohl menschengrossen, beschuppten Lebewesens, welches offenbar an ihrem Körper schnüffelte. Nach einer Sekunde der Starre aus blankem Entsetzen löste sich von Umagus Lippen ein schriller Schrei. Instinktiv sprang sie auf ihre Beine wollte losrennen. Doch es gab keinen Weg. Die Felsplatte auf der sich Umagu befand, endete auf drei Seiten im nichts, und auf der vierte war eine senkrecht nach oben steigende Felswand. Umagu beschloss kurzerhand, dass es sicherer sei, mit dem Rücken zu einer Felswand zu stehen, als zum nichts.
Das schwarze, echsenähnliche Wesen, hatte Umagus heftige Reaktion gelassen beobachtet, richtete sich nun auf seinen Hinterbeinen auf, wobei es den Schwanz als Stütze gebrauchte. Dabei gab es Geräuche von sich, die man als „Na, na!“ hätte interpretieren können.
„Bin ich tot?!“ schrie Umagu immer noch mit hysterischer Stimme. Sie erwartete keine Antwort, auf diese, wie sie doch wusste, rein rhetorische Frage. Doch fiel ihr zur Zeit keine bessere Ablenkung ein, um nicht auf den Stelle, den Verstand zu verlieren.
Das Schuppenwesen hatte sich inzwischen auf die Umagus entgegengesetzte Seite des Felsscheibe gestellt und glotzte sie den eingefallenen Augen durchdringen an. Es öffnete seinen Mund: „Der Tod ist etwas, das die Menschen völlig falsch verstanden haben. Genauso wie das Leben auch.“ Mit diesen klar verständlichen Worten, bewegte sich das Wesen auf Umagu zu.
Erneut begann die durch die Antwort nur noch mehr verwirrte Umagu zu schreien: „ Bleib mir fern, du...! Was bis du überhaupt?“ Umagu beruhigte sich ein wenig. Immerhin konnte sie mit dem Wesen sprechen.
Das schwarze Wesen neigte den Kopf zur Seite. Ein entfernt an ‚Oh’ erinnernder Laut mit dem Unterton grosser Entäuschung teilte Umagu mit, dass sie soeben einen wohl entscheidenden Fehler begangen hatte. Sie wollte sich schon entschuldigen, als der Echsenmensch erwiderte: „Es ist noch nicht sehr lange her, da wolltest du mich noch anfassen.“
So unglaublich diese Aussage auch war, so eindeutig war sie. Umagu suchte nach einer Erklärung: „Siehtst du nur für die Lebenden so bezaubernd aus? Und für die Toten bist du dann diese Kreatur?“
Auch diese Frage schien eine Fehlentscheidung gewesen zu sein. Auch wenn man aus der Mimik der Fratze nicht viel ablesen konnte, so deutete der wirsche Tonfall des Wesens auf dessen Verärgerung über die Frage hin: „Um es in dieser komplett falschen Menschensprache auszudrücken: Du bist nicht das, was du tot nennst!“
Jetzt verstand Umagu absolut nichts mehr. Dieser Ort, das Wesen, das war absolut anders, als was sie bisher kennengelernt hatte. Verzweifelt hakte sie nach: „Aber ich spürte doch, meine Kräfte zu Ende gehen.“
„Und du hast mir sogar gesagt, du würdest sterben“, erwiderte das Wesen, bevor es eine kleine Kunstpause machte. „Dies ist korrekt.“ Wieder eine Pause. „Aber nicht an jenem Tag.“
Umagu begann langsam zu ahnen: „Also hast du mich hierhergebracht und mich gepflegt. Aber warum?“
Diese Frage schien richtig gewählt, denn das Wesen wechselte wieder in seinen anfänglichen Tonfall zurück: „Jeder Mensch, dem ich begegnete, wollte wissen, was ich sei. Wie oft habe ich es zu erklären versucht. Nie hat es jemand verstanden. Irgendwann beschloss ich, dass es keinen Sinn habe und beendete bei dieser Frage das Gespräch. Du jedoch wolltest nicht wissen, was dahinter steckt, du wolltest einfach die Natur erleben. Du warst der erste Mensch, der zu verstehen schien, dass man die wahre Natur nicht erklären kann, sondern sie erfahren muss.“
„Also bist du ein Teil der Natur?“ Umagu hatte nur zu gut verstanden, dass sie nicht nocheinmal nach dem Was oder Wer fragen durfte.
„Dies ist wohl eine der intelligentesten Fragen zum Thema.“ Erwiderte das Wesen klar andeutend, dass es die Art der Frage nicht gutierte, aber dieses eine mal noch dulden würde, wenn dann nie wieder davon gesprochen würde: „Ja, wie alles andere um dich herum, bin ich ein Teil der Welt. Wie fast nichts hier, habe ich aber keine Angst davor, wieder in der Welt aufzugehen.“
„Also bist du ein Gott?“ Diese Frage rutsche Umagu über die Lippen, bevor sie sich überlegen konnte, dass das Wesen genau auf solche Fragen keine Antworten mehr geben wollte.
„Du Unwissende! Götter sind Wesen, welche sich um die Menschen kümmern oder sich um sie kümmern werden. Aber sie waren nicht die ersten Wesen, welche von der Welt hervorgebracht wurden, und sie werden wohl auch kaum die letzten sein, welche wieder von Ihr verschwinden. Oh nein! Götter, so pathetisch sie auch sein mögen, sind bei weitem nicht die mächtigsten Wesen der Welt.“
„Aber ...“
„Versteh mich nicht falsch. Für Menschen und deren limitierten Verstand mögen die Götter durchaus zentral und wichtig sein. Vor allem die Tatsache, dass sich alle mächtigeren Wesen absolut nicht um die Menschen kümmern, ja ihnen sich noch nicht einmal zu erkennen geben, macht für die Menschen die Götter zum Mass aller Dinge.“ Mit diesen Worten drehte sich das Wesen ab. Ein unmissverständliches Zeichen, dass es dieses Thema definitiv für abgeschlossen hielt.
Umagus Anspannung war inzwischen ganz verflogen. Hätte sie das Wesen töten wollen, so wäre sie schon längst nicht mehr hier. Umagu konnte es sich nicht erklären, doch sie fühlte sich an diesem doch sehr ungewohnte Ort nicht unwohl. So setzte sie sich, das Wesen nicht aus den Augen lassend mit dem Rücken gegen die Felswand auf den Boden: „Und wie soll ich dich dann nennen?“
Das Wesen schien ob dieser Frage amüsiert: „Ah, ein Name? Ich habe keinen, habe auch noch nie einen gebraucht. Brauchen Tierrudel Namen für die Ihren? Aber wenn es dir gefällt, dann gib mir doch einen.“
Umagu war über diesen Vorschlag so erstaunt, dass ihr spontan kein Name einfallen wollte. So kreierte sie ein Phantasiewort: „Wie wäre es mit Xasa?“
Erneut war die Enttäuschung in der Stimme des Wesens erkennbar: „So kurz? Wieso nicht: ‚Wesen, das Umagu im Wald krank und hilflos aufgefunden hat, die heilte und von ihr fälschlicherweise als Gott bezeichnet und Xasa genannt wurde’?“
„Aber dieser Name listet ja die Geschichte unseres gesamten Zusammentreffens auf?“ Das Mädchen war etwas verwirrt.
Der Echsenmensch fragte verständnislos zurück: „Ist es nicht genau das was ein Name verkörpern sollte? Es sind doch die Taten, welche über jemanden Auskunft geben und nicht irgendein Phantasiename. Einen Namen kann man missbrauchen, Taten jedoch stehen wie in Granit gemeisselt.“
Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, erwiderte Umagu: „Du hast in alledem recht. Die Menschen erzählen sich deshalb immer wieder Geschichten über Träger berühmter Namen. Und wenn sie nicht eindeutig sind, so hängen wir nähere Bezeichnungen an.
Was du hier vorschlägst, wir darin gipfeln, dass du am Ende dieses Gespräches einen Namen besitzen wirst, den auszusprechen ich nicht in der Lage sein werde, bevor meine Haare ergrauen.“
Das Wesen gab ein paar grunzende Laute von sich: „Entschuldige, ich hab ganz vergessen, dass Zeit für euch Menschen eine entscheidende Rolle spielt.“ Es kneift die Augen zusammen, während das Wesen anstalten macht die für Echsen typische Körperhaltung einzunehmen.
In Umagus Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Sie brauchte dringend etwas Zeit um diese zu ordnen. Aber zuvor musste sie noch eine Sache wissen: „Verzeih mir meine Neugierde, aber deine jetzige Form und jene auf der Lichtung unterscheiden sich sehr. Welche ist nun deine wahre Gestalt?“
Ein verächtliches Zischen der Echse verriet Umagu, dass sie diese Frage besser nicht gestellt hätte: „Ich dachte, ich hätte klar gemacht, nicht mehr über meine Natur sprechen wollen! Du hast es immer noch nicht begriffen wirst es auch nie begreifen. Es gibt keine wahre Form von mir, weil alles meine wahre Form ist. Ich bin immer das war gerade angebracht ist: Auf der Lichtung genauso wie hier. Aber auch jede andere Form ist möglich: ein Glücksdrache, ein Seeadler oder ein grosser Bär. Was soll’s sein?“
Das Wesen war offenbar in Rage geraten. Während seiner Rede wechselte es seine Form in jene Tiere, welche es aufzählte. Und mit jedem Mal kam es Umagu näher. Sie hatte sich inzwischen ihre Frage breuend so klein wie möglich gemacht und harrte der Dinge, die da kämen.
„Oder wie wär’s denn mit einem Menschen?“ Das Wesen verwandelte sich in einen jungen, muskulösen Mann. Kleider, welche den makellosen Körper verdeckt hätten, gab es keine.
Mit einem grossen Satz sprang Umagu auf ihre Beine. Die Angst vor den Launen des Wesens und auch die geheime Belustigung über die Vorführung von dessen Kräften, waren auf einen Schlag vergessen. Das Wesen war nun schon so nahe getreten, dass die beiden Gestalten nur noch um eine handbreit voneinander getrennt standen: „Du kannst dich in alles verwandeln, was du willst! Aber verwandle dich ja nie mehr in einen Menschen!“ fauchte Umagu das Wesen an. „Sie sind es nicht wert. Ich hasse die Menschen!“
Die Gesichtszüge des Mannes verliefen und sein Gesicht färbte sich wieder schwarz, bis das Wesen wird die Echsengestalt angenommen hatte. „Oho!“, sprach es in seiner gewohnten Stimme, „Aber genau dahin werde ich dich zurückbringen. Ohne den Schutz dieser Menschen, wird dich die Natur innerhalb eines Tages umgebracht haben. Du bist ihr nicht gewachsen.“
Umagu erstarrte. Das konnte nicht der Ernst des Wesens sein. Sie würde niemals wieder freiwillig zu ihren Peinigern zurückkehren. Ausserdem, stimmten die Geschichten um die Spinnenfrau, so würde Umagu im Dorf ebenfalls den Tod finden. Andererseits wusste sie nur zu gut um die Härte der Natur. Das Wesen hatte wohl recht: Keinen Tag würde sie überleben. Aber immerhin würde sie die Natur nicht aus Bosheit oder Rache töten, sondern weil es so in ihren ungeschriebenen Regeln stand.
Auch wenn Umagu nur einen kleinen Moment wie versteinert dagestanden hatte, so kam es ihr vor wie eine Ewigkeit. Ein Gedanke jagte den nächsten, stets abwägend, ob zwischen welchem der beiden Übel sie entscheiden sollte. Auf einmal stach aus diesem grauen Gedankenmeer, wie ein grell weisser Blitz eine Idee hervor, die genauso verwegen wie zu realisieren aussichtslos war. „Nein bringe mich nicht zurück,“ hörte sich Umagu plötzlich erschreckt selber sagen. Jetzt gab es kein zurück mehr, und Umagu erklärte mit einer Stimme, aus der die Unsicherheit klar herauszuhören war: „Lass mich bei dir bleiben. Ich will dir dienen und werde dich umsorgen, mit all dem was ich bei den Menschen gelernt habe. Sage mir, was ich für dich tun kann, und ich werde gehorchen. Versprochen.“
Mit jedem Wort wurde Umagus Stimme leiser, bis sie schlussendlich das letzte Wort nur noch flüsterte. Immer unsicherer, dass sie den Vorschlag überhaupt hätte stellen sollen. Die ausdruckslosen Gesichtszüge des schwarzen Wesens, das absolut keine Reaktion, nicht einmal ein höhnisches Lachen, auf Umagus Vorschlag erwiderte, schienen nichts Gutes zu verheissen. Unerträgliche Stille.
„Ich werde dich töten, wenn du nur noch einmal nach meinem Wesen fragst,“ brach das Wesen sein Schweigen.
Umagu war verwirrt. Erst nach und nach wurde ihr bewusst, dass diese Antwort wohl ja heissen sollte. „Oh, ich danke dir, Xasa. Ich werde –“
„Ruhe!“ unterbrach sie der Xasa und setzte sich ohne sie weiter zu beachten an den Rand des Felsplateaus.

Umagu hatte gelernt sich in Geduld zu üben. Die ersten paar Tage vergingen langsam und ohne dass sich das Wesen nur einmal an Umagu gewendet hätte. Auch sie hatte es nicht gewagt, sich an das Wesen zu wenden, dem sie den Namen Xasa gegeben hatte. So sass Umagu meist an die Felswand gelehnt und sah in den blauen Himmel hinauf, über den von Zeit zu Zeit vereinzelt weisse Wolken zogen.
Alle zwei Tage verwandelte sich der Xasa in einen grossen Raubvogel (immer einen anderen) und verliess das Plateau, um Stunden später mit toten Nagetieren und ein paar Früchten zurückzukehren. Umagu war zunächst vom Nahrungsangebot angewidert. Sie hatte gelernt Fleisch zu kochen, bevor sie es ass. Doch war auf dem Plateau ohne Holz an Feuer nicht zu denken. Fleisch roh zu verspeisen war aber um einiges leichter, als deren Blut zu trinken. Denn auch wenn das Wesen an die Nahrung für Umagu dachte, so vergass es das Wasser, und die Früchte alleine reichten an Flüssigkeit nicht aus. Also war sie dazu gezwungen. Für ganz kurze Zeit dachte sie daran, Xasa zu bitten, ihr beim nächsten Mal Wasser mitzubringen. Doch dieser Gedanke wurde genauso schnell verworfen, wie er ihn ihrem Kopf auftauchte. Sie hatte versprochen, dem Wesen zu gehorchen. Sie würde dieses Versprechen nicht brechen. Und Xasa hatte nun einmal Ruhe geboten, die sie nicht ohne Aufforderung stören würde.
Nur in der Zeit während der Ausflüge des Xasa traute sich Umagu von ihrem Platz an der Felswand weg. Bald schon war klar, dass sie ohne die speziellen Fähigkeiten des Xasa hier kaum wieder wegkommen würde. Die Wände waren glatt und steil und Umagu hatte kein Erfahrung im Klettern. Zudem befang sie immerzu ein Angstgefühl, wen sie in die Tiefe schaute. Dennoch traute sie sich langsam aber sicher immer mehr an den Rand des Plateaus und erkannte schon bald, dass es keinesfalls in der Luft schwebte. Umagu befand sich auf einem hohen Berg mit äussert steilen Flanken, welcher auf einer Insel stand. Wenn sich Umagu nahe an den Abgrund wagte, konnte sie die Küstenlinie erkennen.
Bei ihrem zweiten Versuch über den Rand des Plateaus zu schauen, entdeckte Umagu Rauchschwaden in der Nähe der Küste aufstiegen. Sie schaute genauer hin und meinte dort, kurz bevor eine Felswand zu ihrer rechten ihr den Blick versperrte, an der Küste eine Ansammlung von Hütten erkennen zu können. Mit einem Mal war Umagu klar: das war ihr Dorf. Sie befand sich immer noch auf jener Insel, auf der sie aufgewachsen war. Und der Berg auf dem sie sich befand hatte sie auch schon oft aus der Ferne gesehen. Es musste der grösste von den vieren gewesen sein; jener, dessen eine Felswand beinahe senkrecht in die Tiefe abfiel.

Die Tage vergingen. Auf Tag folgte die Nacht, auf Dunkelheit folgte Licht. Nach und nach bekam Umagu ihre Angst vor dem Tiefe in den Griff und sie setzte sich genauso, wie der Xasa, das oftmals zu tun pflegte an den Rand des Plateaus und liess ihre Beine in die Tiefe hängen. Dabei beobachtete sie die Welt, die zu ihren Füssen lag. Bald kannte sie die Wälder, die Flüsse und die Wiesen. Sie sah Veränderungen, konnte anhand von aus dem Blätterdach wild emporschiessenden Vogelscharen auf Untiere schliessen, die sich darunter versteckten, und studierte den Flug der Wolken, welche von Windgeistern über den Himmel geblasen wurden. Ab und zu träumte sie von den Dingen, die sie jetzt da unten erleben könnte. Doch meistens starrte sie in die Richtung ihres Heimatdorfes. Ein wenig trauerte sie der Zeit dort nach, auch wenn sie es sich nie selber eingestanden hätte. Viel mehr aber dachte sie an die Zeit ihrer Peinigung zurück. Wut und Rachegelüste loderten in ihr auf, und oftmals malte sie sich ihre Rache aus, nachdem sie den Xasa hierfür hätte überzeugen können.

Einmal, die Tage ihres Aufenthaltes auf dem Plateau konnte Umagu schon längst nicht mehr zählen, sass sie wieder in Gedanken versunken am Felsrand und schaute in Wunschträume versunken zum Dorf hinüber, als sie hinter sich die Stimme des Xasa vernahm: „Erzähle mir von den Menschen.“
Umagu drehte sich erschreckt um. Xasa kam auf sie zu und setzte sich neben sie an den Felsrand. Er musst heute den Berg von der Rückseite her angeflogen und ihn dann in der Echsengestalt umklettert haben. Jetzt sass der Xasa neben Umagu, schaute sie an und wartete auf eine Antwort.
„Die Menschen,“ begann Umagu zögernd. Sie hatte keine Ahnung, was sie dem Xasa erzählen sollte. „Die Menschen sind nicht leicht zu verstehen. Selbst untereinander verstehen sich die Menschen oftmals nicht.“ Umagu schaute zu ihrem Gesprächspartner hinüber. War es dies, was er erfahren wollte?
Der Xasa hatte seine Kopf leicht zur Seite geneigt: „Erzähle mir was von deinen Menschen.“
„Von meinem Dorf?“ Umagu sah den Xasa erneut fragend an, bekam aber keine Antwort. „Es war ein kleines Dorf am Meer. Ich bin darin aufgewachsen. Die Menschen darin waren gemein zu mir. Nur die alte Baakma war nett. Alle anderen, allen voran meine sogenannte Schwester Makami haben mich immer nur schikaniert.“
„Und trotzdem denkst du oft an sie zurück. Nicht wahr?“ Der Tonfall dieser Frage des Xasa war sehr suggestiv.
„Du hast mich die ganze Zeit über beobachtet!“ Umagu wurde rot zugleich vor Wut über das Verhalten des Wesens, als auch vor Scham, dass alles so offensichtlich war. Umagu fühlte in sich eine Unruhe aufsteigen, ein wachsendes Gefühl von Wut über die gesamte Welt, welche herausgeschreien werden musste. „Ja, ich beobachte das Dorf aus der Ferne. Und ja, es sind die Menschen, an welche mich das Dorf erinnert. Ich kann sie zwar nicht sehen, doch ich kann mich an ihnen rächen. Wie oft ich mich in Gedanken an ihnen räche! Makami erkrankt an einer langsamen, schmerzhaften Seuche, welche sie nicht umbringt, sie aber grässlich entstellt und ihr schliesslich ihre verlogene Zunge abfallen lässt. –“
„Oh, oh,“ beschwichtigt der Xasa das in Rage geratene Mädchen. „halt ein. Ich bin mir sicher, dass du noch viele weitere solcher Gedanken besitzt. Doch sollst du mir sie nicht alle auf einmal erzählen. Sie sind kostbar. Ich will nicht einen ganzen Baum voll mit Früchten, am ersten Tag pflücken. Im Korb gehen sie nur allzu schnell kaputt.“
Umagu hatte sich noch nicht ganz beruhigt. Xasas Worte waren ihr nur zum Teil verständlich. Sie verstand zwar was es wollte, doch der Grund blieb ihr verschlossen. Vielleicht würde es die Zukunft weisen. „Also sind es meine Gedanken, die dich interessieren? Und nicht meine Geschichte?“
„Mich interessiert, was du erzählst.“ Die Stimme des Xasa klang geheimnisvoll, so als ob in diesem Satz eine grosse Weisheit liegen würde. „Die Vergangenheit ist langweilig, denn sie ist bereits geschehen. Auch die Zukunft ist nicht wirklich spannend. Die Menschen werden mehr werden, grössere Dörfer werden sich bilden. Aus einem Kampf zwischen Stämmen, werden Kriege zwischen Völkern werden, aber alles in allem ist alles dasselbe.“
„Du kannst in die Zukunft sehen?“ platzte Umagu, einem spontanen Gedanken folgend, heraus.
„Das ist doch nichts besonderes. Viele Lebewesen können das. Vergangenheit – Zukunft – ist doch alles einerlei. Die Zukunft ist nicht interessant. Sie wird ja sowieso stattfinden. Auch der Vergangenheit kann nichts interessantes Abgerungen werden. Sie ist vorbei und höchstens noch für Erinnerungen gut. Was zählt ist der Augenblick. Lebe diesen ganz speziellen Moment intensiv und koste ihn völlig aus. Nirgends findet sich eine schärfere Grenze zwischen zwei Dingen. Die Vergangenheit und die Zukunft treffen sich in der immer weiter forteilenden Gegenwart.“
Umagu konnte diesen Ausführung nicht wirklich folgen. Sie hatte die rare Gelegenheit ein sehendes Wesen zu ihrer Zukunft zu befragen. „Was siehst du in meiner Zukunft?“ Umagu ärgerte sich in jenem Moment über diese plumpe Frage, als sie jene gestellt hatte.
Der Xasa winkt ab: „Da ist nicht viel. Es gibt einen breiten Fluss, der durch eine sehr vielfältige Landschaft fliesst. An einem grossen Fels biegt er scharf ab und lässt nur noch ein kleines Rinnsal geradeaus weiterfliessen.“
War das alles? Umagu war verwirrt: „Du sprichst in Rätseln. Was soll das bedeuten?“
„Denk nach – selbst für deinen beschränkten Geist sollte dies erkennbar sein.“ Und der Xasa wandte sich von Umagu ab.

Es war nur wenige Tage später als der Xasa wieder auf einem seiner Nahrungsausflüge war. Umagu erwartete ihn bereits zurück, doch er kam nicht. Es wurde Abend und dann wurde es dunkel, ohne dass das Wesen zurückgekehrt wäre.
Umagu hatte sich zwar hingelegt, doch konnte sie nicht einschlafen. Obwohl sie auf diesem Plateau ohne das Wesen verhungern müsste und ein Kletterversuch mit Sicherheit in einem Absturz enden würde, war es nicht ihre Situation, die Ihr am meisten Sorgen bereitet. Sie sorgte sich um den Xasa. Immer wieder malte sie sich aus, was ihm alles hätte zustossen können. Ein grösserer Vogel hätte ihn angreifen und töten, der Pfeil eines Jägers ihn durchbohren können. Immer und immer wieder murmelte sie vor sich hin: „Er wird zurückkehren. Er wird noch diese Nacht zurückkehren. Du wirst sehen.“
An Schlaf war nicht zu denken. Bilder des toten Xasas hielten Umagu wach. So vernahm sie auch den plumpen Aufschlag am anderen Ende des Plateaus.
Umagu tastete sich in jene Richtung. Vergessen war die Gefahr des Abgrundes. Auch dachte sie nicht an die Möglichkeit, dass da ein anderes Wesen gelandet sei.
In der völligen Finsternis benötigte Umagu etwas Zeit den Körper zu finden. Noch nie hatte sie den Xasa berührt, doch als ihre Hände einen beschuppten Körper ertasteten, hatte sie keine Zweifel mehr.
Alle Versuche ihn anzusprechen blieben unbeantwortet. So dass sie langsam den gesamten Körper abtastete. Am Kopf fand sie eine feuchte Stelle. Schnell nahm sie ihr Hemd und wickelte es dem offensichtlich verwundeten Wesen um den Kopf.
Ein weiteres Mal tastete sie den Körper ab, nur um sicher zu sein, dass sie keine Wunden übersehen hatte. Und noch einmal und noch einmal.
Erst als mit dem Morgen das Licht zurückkehrte, Umagu hatte die ganze nacht nichts geschlafen, konnte sie den Xasa genauer untersuchen.
Während sie ihn nochmals abtastete um definitiv festzustellen, dass der Xasa keine Wunden mehr hatte, und die demnach alle in der Nacht geheilt sein mussten, schlug er die Augen auf und begann leise zu brummen. „Weitermachen.“

Wieder vergingen viele Tage in denen Umagu definitiv zu einer jungen Frau heranwuchs. Sie und Xasa sassen nun oft gemeinsam an der Kante und schauten auf die Insel hinunter. Immer wieder forderte er sie auf, von den Menschen zu berichten, manchmal verlangte er, dass sie seinen Körper massierte. Ab und zu wollte er auch von Umagus Racheträumen hören. Sie berichtete ihm von der grossen Welle, welche das Dorf überspült und einige Kinder in den Tod schickt, von den drei Biestern, welche in einer Nacht das Dorf angreifen und zwei ganze Familien auslöschen und von dem Brand, welcher die Hälfte aller Nahrungsmittelvorräte zerstört. Immer wieder aber erzählte sie dem Xasa von der alten Baakma. Lobte sie dafür, dass sie stets zu Umagu gehalten hätte und achtet bei der Beschreibung all ihrer Träume stets akribisch darauf auf, dass der alten Frau nichts zustösst. Manchmal fragt sie sich, ob Baakma überhaupt noch lebt. Doch dann überkommt Umagu immer ein Gefühl zu wissen, dass die alte Frau noch nicht gestorben sei.
„Wir werden heute dieses Plateau verlassen.“ Die Mitteilung des Xasa kam plötzlich und unerwartet.
Umagu, die dieses Plateau nun ihre Heimat nannte, erinnerte den Xasa: „Ich werde kaum von hier wegklettern können.“
"Umagu, Umagu." Der Tonfall des Xasa liess eine gespielte Empörung erkennen. „Wie denkst du, bist du hier her gekommen? Wenn das ging, so wird das wohl auch in die andere Richtung gehen. Oder?" Mit diesen Worten trat er einen Schritt zurück und begann sich zu verwandeln. Er wurde immer grösser, begab sich auf alle Viere und wechselte seine Farbe nach rot. Aus seinen Füssen wurden Klauen, die mit scharfen Krallen besetzt waren, aus seinem Hinterteil wuchs ein mächtiger Schwanz. Die Schuppen blieben zwar, doch wuchsen, sie mit dem Wesen mit, welches inzwischen schon so gross geworden war, dass es beinahe das gesamte Plateau ausfüllte. Seine Gesichtszüge wurden eckiger, sein Gebiss grösser und die Zähne spitzer, während die Nase verschwand und nur noch ein paar Nüstern zurückliess. Die bemerkenswerteste Veränderung war aber, dass aus der Schulterpartie zwei mächtige, ledrige Schwingen wuchsen, welche das Tier zweifellos in der Lüfte heben würden.
Auch wenn Umagu noch nie etwas von einem Drachen gehört, geschweige denn je einen gesehen hätte, so war ihr dennoch sofort klar, dass das Wesen, in welches sich der Xasa verwandelt hatte, eines der mächtigsten und furchteinflössendsten der Welt gewesen sein musste. Dennoch kletterte sie ohne zu zögern auf dessen Rücken, als ihr so geheissen wurde, und Flügelschläge später flog sie auf dem Drachen durch die Luft.
Das Erlebnis war so wundervoll, dass sie am liebsten die ganze Zeit gejubelt und gejauchzt hätte. Doch raubte ihr der heftige Luftzug welcher durch den schnellen Flugwind entstand, beinahe den Atem8"Doch raubte ihr der heftig", welcher durch den Umago hatte genügend damit zu tun, sich festzuhalten. Vergessen waren die Angst vor der Höhe, vergessen die Vergangenheit und die Zukunft. Nur die Gegenwart zählte, und in ihr preschte sie durch die Luft.
Aber auch wenn Umagu die Lüfte sehr genoss, so kreiste der Drache nur wenige Male über den Wäldern, bevor er sich in einen Sinkflug begab und schliesslich in einem Tal zwischen den Bergen der Insel landete.
Als Umagu von seinem Rücken heruntergeklettert war, begann sich der Xasa erneut zu verwandeln. Dieses Mal jedoch nahm er nicht die vertraute Gestalt des schwarz geschuppten Echsenmenschen an, sondern verwandelt sich ein einen riesigen Bären, der Umagu selbst auf allen vieren deutlich überragte.
"Dies war einst deine Welt, " donnerte die Stimme des Xasa, welche ihren Zischenden Unterton gegen einen brummenden ausgetausch hatte.
"Wir werden hier bleiben. Doch du wirst hier in Gefahr sein. Deshalb sollen für dich Regeln gelten, welche du einzuhalten hast. Gehe stets drei Schritte hinter mir, damit ich zuerst auf Gefahren treffe. Achte darauf, dass dein Haupt niemals auf der Höhe meines Kopfes ist, geschweige denn darüber hinausragt, es könnte für dich tödlich sein."
Es folgte ein längerer Vortrag von Verhaltensregeln, welche Umagu sich nicht nicht alle merken konnte. Dennoch war sie sich deren Wichtigkeit bewusst. Der Schutz des Xasa war das einzige was sie in dieser grausamen Welt überleben lassen würde.
"Nachdem wir das geklärt haben," gebot der Bär, "zeige mir nun wie die Menschen leben.“

In den nächsten Tagen, bemerkte Umagu erst, wie sehr sie die Zeit auf dem Plateau geprägt hatte. Auch wenn die Welt hier unten viel kleiner schien, weil immer wieder Felswände oder Bäume die Sicht verstellten, so war das Leben im Tal um einiges intensiver. Die Luft roch nach Leben und nach Tod, nach Pflanzen und Tieren. Ihre Hände strichen nicht mehr nur über Stein, sondern Gras und Blätter. Die grösste Veränderung aber war, dass sie mehr als zehn Schritte in eine Richtung gehen konnte, ohne in die Tiefe zu stürzen. Es war schon sehr ironisch, dass sie sich jetzt viel freier fühlte, obwohl ihre Sicht stark eingeschränkt war.
Umagu brauchte erst wieder einige Zeit, um sich an das übliche Tageswerk im Dorf zu erinnern, welches sie dem Xasa ja nun präsentieren sollte. Doch nach und nach erinnerte sie sich an alle Arbeiten, welche sie im Dorf zu erledigen hatte. Sie errichtete im Tal einen Steinkreis, der als Feuerstelle dienen sollte. Darum herum reinigte die den Boden, so dass ein kleiner Platz entstand. Sie erklärte dem Xasa das Prinzip von Hütten, auch wenn sie selber nicht in der Lage war eine zu bauen. Sie konnte dem Xasa beibringen, dass dieser Platz nun ihre Heimat sei, den sie mit der Umsicht der Frau des Hauses pflegte.
Auf langen Ausflügen mit dem Xasa sammelte sie Wolle von wilden Tieren, flocht Decken und bereitete für beide eine Bettstatt aus Blättern, welche sie mit den Decken überdeckte. Umagu zeigte dem Xasa, welche Pflanzen, Menschen essen, wie sie sich waschen und womit sie spielen. Umagu begann zu kochen und hielt ihre Freude darüber geheim, dass ihr Essem dem Xasa sehr zu munden schien.
Im Laufe der Zeit kehrte Umagu zu fast allen Gewohnheiten ihres einstigen Lebens zurück. Es gab nur zwei grosse Ausnahmen. Da waren zunächst die vom Xasa aufgestellten Regeln. Musste sich Umagu zu Beginn noch anstrengen, diese strickt zu befolgen, so waren sie ihr schon nach kurzer Zeit so vertraut, dass sie sie ohne gross zu überlegen im Sinne des Xasa handelte. Zum zweiten hatte sie sich auf dem Plateau an etwas gewöhnt, das sie jetzt nicht mehr missen mochte: das Blut.
Wie sehr hatte sie sich damals eine klare Quelle gewünscht! Doch als sie im Tal voll Freude vom ersten Bach trank, schmeckte das Wasser schal und fade. Seine Kühle war nichts Besonderes im Vergleich zum noch warmen Blut gerade erlegter Tiere. Seine ungetrübte Klarheit nicht annähernd so verführerisch wie das dickflüssige Rot des Blutes.
Umagu hatte immer wieder vom Wasser gekostet, in der Hoffnung, es würde ihr wieder so gut schmecken wie damals. Doch musste sie bald einsehen, dass dies nicht geschehen würde. Und da der Xasa, in der Gestalt des Bären, immer noch alle zwei Tage für ein paar Stunden im Wald verschwand und mit reichlich Beute zurückkehrte, sah sie schon bald auch keine Notwendigkeit mehr Wasser zu trinken. Es reichte ja völlig aus, mit ihm zu kochen.

Es hatte gerade ein paar Stunden geregnet, als der Bär eines Tages von einem seiner Jagdausflüge zurückkehrte. Umagu war gerade damit fertig geworden, die wenigen Gegenstände des Haushaltes trocken zu wischen und stand nun mit dem Tuch in der Hand neben ihrem Wohnplatz und erwartete den Bären. Nachdem sie diesem das Fell trockengerieben hatte, machte sie sich daran, die Füsse vom Schmutz und Dreck zu befreien. Dies gefiel dem Xasa offensichtlich sehr, denn er brummte zufrieden vor sich hin.
Ohne genau zu wissen warum, erinnerte sich Umagu währenddessen an eine alte Melodie. Und sie kam nicht umhin, leise ein leises Lied anzustimmen. Umagu merkte nicht, wie der Bär verstummte, wie er lange Zeit gebannt ihrer Weise lauschte. Erst als Umagu fertig gesungen hatte, meldete sich der Xasa zu Wort: „So schön! Es ist wirklich war, ihr könntet nicht unterschiedlicher sein.“
Umagu errötete leicht. Den ersten Teil der Aussage des Xasa hatte sie verstanden. Doch der zweite schien keinen Sinn zu machen: „Wie bitte?“
„Es gibt doch zwei Arten von Menschen, nicht wahr?“ Neugierde war dem Xasa gut anzumerken.
Es dauerte etwas, bis Umagu verstand: „Du meinst Männer und Frauen?“
„Wenn du sie so nennen willst,“ antwortete der Xasa, „Was bist den du?“
Umagu musste lachen. Ein so mächtiges Wesen kannt nicht das Prinzip von männlich und weiblich? „Ich bin eine Frau.“
„Dann habe ich heute einen Mann getötet,“ gab der Bär in einem nüchternen, sachlichen Tonfall zurück.
Einstmals wäre Umagu ob einer solchen Mitteilung bestürzt oder beunruhigt gewesen. Doch inzwischen waren die Menschen für sie so weit weg, dass sie kein Mitleid mit ihnen mehr hatte. Sie fragt mehr um das Gespräch im Gange zu halten: „Wie kam es?“
„Er hatte sich in einem Gebüsch versteckt und wartete auf Beute,“ begann der Xasa mit seinen Ausführungen. „Als ich mich ihm genügend genähert hatte, nahm er seinen Bogen und schoss einen Pfeil in meine Richtung. Es war ein richtig guter Schuss. Ein normaler Bär wäre ohne Zweifel so stark verwundet gewesen, dass es für den Jäger ein leichtes Spiel gewesen wäre ihm vollständig das Leben auszuhauchen. Ich mag das nicht.“
Umagu konnte sich den Rest leicht vorstellen.
„Diese anderen Menschen, die Männer,“ meinte der Xasa, „sie sind sehr geschickt. Aber ich mag sie nicht. Ich mag deine Art Menschen. Ich mag wie du mir dienst. Ich finde, deine Art ist zum dienen geschaffen.“
Umagu war gerührt. So unbeholfen es auch daherkam, dies war ein Kompliment. Die erste Anerkennung ihrer Arbeit, welche sie auf den Wunsch des Xasa verrichtete. Umagu sagte nichts, nickte stumm und begann den letzten Fuss des Bären zu säubern.

Auf Tage folgten Nächte, der Helligkeit die Finsternis. Umagu konnte schon seit langer Zeit schon nicht mehr richtig schlafen. Es waren ihre Gedanken, welche sie wach hielten. Je länger sie mit dem Xasa zusammen war, desto mehr wusste Sie über sein Verhalten. Dennoch war ihr klar, dass sie ihn nie verstehen würde, wenn sie nicht nach seinem Wesen fragen würde.
Der Tag der ersten Begegnung war bereits Ewigkeiten her. Vielleicht hatte der Xasa vergessen, dass sie ihn damals mit vielen ihm so unliebsamen Fragen gelöchert hatte. Vielleicht würde er nicht mehr an seiner Drohung festhalten, sie zu töten, falls sie ihn nur noch ein einziges Mal darauf ansprechen würde.
Doch wann immer sie sich einem solchen Gedanken hingab, brachte sie ihr Verstand zur Vernunft. Es war nur ein Wunsch und sie kannte den Xasa inzwischen nur zu gut, all dass sie nicht hätte abschätzen können, dass er seine Meinung niemals ändern würde.
So blieb ihr nichts anderes übrig, als jenen wenigen Erklärungen nachzudenken, welche sie von ihm dazumals erhalten hatte. Dies war nicht sehr ergiebig, gab ihr meist mehr Rätsel als Antworten auf und wenn sie dann endlich einschlief, plagten sie Träume, die sich alle immer irgendwie um verborgenes Wissen drehten.
Auch diese Nacht war nicht anders. Das Tageslicht war der Dunkelheit gewichen. In der Feuerstelle glimmten noch ein paar Holzscheite vor sich hin, in deren Licht Umagu gerade noch die Konturen des Bären ausmachen konnte, der sich ebenfalls hingelegt hatte. Umagu wusste inzwischen genau, dass der Xasa nicht zu schlafen brauchte und sich wohl eher aus gesellschaftlichen Gründen hinlegte. Somit überraschten sie auch dessen offenen Augen nicht, welche in die Dunkelheit starrten. Ob er dort was sehen mochte? Dort war doch nur der Fels?
Schlagartig sah sie wieder Bilder eines längst vergangenen Gespräches vor sich, hörte sie das Echsenwesen sprechen. Doch dieses Mal waren die Worte nicht mehr so rätselhaft, wie sie bis anhin gewesen waren. Es schien alles so klar. Wieso war sie nicht früher selber darauf gekommen?
Jetzt da sie die Worte zu deuten vermochte, überkam sie grosse Angst. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Sie würde sterben müssen, sie wüsste nicht, was sie dann tun sollte.
Lange wälzte sie sich auf ihrem Schlafplatz hin und her, doch der unruhige Schlaft, der sie irgendwann übermannte, blieb diese Nacht aus. Das Feuer war erloschen, der Himmel, abgesehen von ein paar roten Punkten, völlig schwarz. Schliesslich fasste Umagu den Mut, zum Xasa hinüberzukriechen. Dieser brummte nur leise, als ihre Hände den pelzigen Gefährten ertasteten.
„Erinnerst du dich noch unser Gespräch über die Zukunft?“ fragte Umagu mit zittriger Stimme.
Die Antwort des Xasa war ein unbestimmtes Brummen, das alles mögliche hätte bedeuten können.
„Du bist der Fluss nicht wahr?“ Umagu versuchte mit fester Stimme zu sprechen. Erfolglos.
Wieder gab der Bär nur ein Brummen von sich, das nicht genau zu deuten war.
„Ich will das nicht! Lass es nicht geschehen.“ Jetzt macht Umagu keinen Versuch mehr ihre Verzweiflung zurückzuhalten. Sie schuchzte laut und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen.
Der Xasa hingegen antwortete mit der Stimme eines Gebieters, welche ein unumstössliches Gesetz erlässt: „“Pst, du störst die Nachtfalter bei ihrem Liebesspielt. Ich sagte doch, dass die Zukunft nicht interessant sei. Sie wird sowieso passieren. Da gibt es nichts zu wollen.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf die andere Seite.

Die Zeit eilte dahin. Das Laub der Schlafstätten musste bald schon ausgewechselt werden. Die Gewobenen Tücher bekamen Löcher und Umagu musste sie ersetzen.
Das Leben im Tal war schon lange zur Normalität geworden. Umagu hätte die Menschen schon längst vergessen gehabt, wenn der Xasa sie nicht immer wieder darauf angesprochen hätte.
Ihre anfängliche Wut über das Dorf, in welchem sie aufgewachsen war, und die damit verbundenen Racheträume verschwanden und liessen nur noch eine Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen zurück.
Um den Xasa nicht zu enttäuschen begann sie aber Geschichten zu erfinden. Rachegeschichten, die immer wieder mit einer neuen Grausamkeit aufwarteten. Von umstürzenden Bäumen, die Leute erschlugen, über krankheitsbringende Ratten bis hin zu Fischen, die badende Personen bei lebendigem Leibe verspeisten, erzählte sie dem Xasa, dem diese Geschichten sehr zu gefallen schienen.
Eines Abends, das Licht des Tages war noch nicht ganz erloschen, setzte sich der Bär wieder einmal neben Umagu: „Erzähle mir von einem weiteren Traum, den du über das Dorf hattest.“
Wie hatte Umagu, diesen Satz gefürchtet. Den ganzen Tag hatte sie angestrengt über eine neue Variante der Bestrafung über das Dorf nachgedacht. Doch es kam ihr nur noch eine einzige in den Sinn: Die vollständige Auslöschung des Dorfes. Diese konnte sie unmöglich erzählen. Wäre es doch die finale Geschichte, die sie damit erzählen würde. Umagu hatte keine Ahnung, wie der Xasa darauf reagieren würde, sie fürchtete aber tief in ihrem Inneren, dass dies ihm absolut nicht zusagen würde. Diese Befürchtung wischte sämtliche noch so guten Argumente beiseite, es doch zu versuchen.
Umagu sass da, schluckte zweimal leer und sprach langsam, immer noch nach einem Ausweg suchend: „Ich kann nicht.“
„Was soll das heissen?“ fragte des Xasa wirsch.
„Das heisst heisst, dass ich nicht kann.“ Umagu’s Stimme klang noch fest, während sie innerlich verzweifelte. Vielleicht würde sie heute Nacht wieder davon träumen. Sehr unwahrscheinlich, denn schon seit sehr langer Zeit träumte sich nicht mehr. Und selbst wenn, es würde zu spät sein. Es wäre die Zukunft.
„Das ist Unsinn!“ brummte der Bär aufbrausend. „Du sollst mir dienen und ich will jetzt einen Traum von dir hören.“
Umagu bekam dies fast gar nicht mich. Es wäre die Zukunft. Dieser Gedanke geisterte in ihrem Kopf herum. Wie eine noch verschlossene Knospe. Doch dann platzte sie auf und strahlte in einer atemberaubenden Farbenpracht. Alles war so klar, Umagu würde heute eine grossartige Geschichte erzählen.
„Ich kann dir keinen Traum erzählen“, begann Umagu, „weil ich nicht weiss, was passieren wird. Es geht um die Zukunft.“
Der Xasa brummte. Bedeutete es Missgunst über das gewählte Thema, Zufriedenheit über den Beginn der Geschichte oder beides? Umagu konnte es nicht sagen. Doch jetzt kam gab es keinen Weg mehr zurück.
„Du weisst, dass ich dir immer von schrecklichen Ereignissen im Dorf erzählt habe. Doch was ist Schrecken, der zum Alltag wurde? Stumpfen die Menschen nicht ab? Deshalb hab ich einen völlig neuen Wunsch:
Dem Dorf geht es gut. Die Leute sind glücklich. Sie können sich auf feste Werte verlassen und wiegen sich in Sicherheit.“
Umagu schielte zum Xasa hinüber. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit. Ihre Geschichte war also gut gewählt. Umagu atmete leise erleichtert auf, und setzte ihre Erzählung fort: „Es wird die Zukunft sein, welche den Menschen noch einmal den Schrecken zurückbringt. Erinnerst du dich noch an das rote, geschuppte Wesen, als welches du mich vom Felsplateau hierher gebracht hast. Dieses Wesen wird eines schönen Tages hoch über dem Dorf kreisen. Die Bewohner werden dessen wahre Grösse nicht richtig einschätzen und während ein Teil der Leute aus dem Dorf flieht, bleibt ein anderer zurück, um das Untier zu bekämpfen, welches es klar auf das Dorf abgesehen hat. Wenn die Bestie auf das Dorf im Sturzflug niederpreschen wird, werden die verbleibenden ihren Fehler erkennen. Doch dann ist es zu spät. Keiner wird entkommen, die werden alle erdrückt, lassen ihr Leben zwischen den Zähnen des Roten Untiers oder werden von ihm verschleppt.“

Seit dem Tage jener Zukunftsgeschichte, war erneut viel Zeit vergangen. Auch wenn das Leben wie gewohnt weiterging, so hatte jene Nacht doch eine ganz spezielle Auswirkung: Der Xasa hatte Umagu seitdem nie wieder nach einer Geschichte gefragt.
Umagu hatte gerade ihre tägliche Arbeit beendet, und wartete nun auf die Rückkehr des Xasa, der sich wieder mal in den Wald auf Beutezug begeben hatte. Sie sass auf einem Stein am Fusse eines felsigen Hügels, als über sich einen wie von tausend Adlern ausgestossener Schrei aus ihren Gedanken riss. Umagu blickte in den wolkenlosen Himmel auf, wo sie einen riesigen roten Drachen über sich kreisen sah. In seinen Krallen hielt er unverkennbar einen Menschen. Als er mit ausgestreckten Schwingen langsam in das Tal hinuntersegelte, verspürte Umagu keine Angst. Sie fühlte mit aboluter Sicherheit, dass dies der Xasa, war.
Bald schon war der Drache so nahe, dass Umagu klar erkennen konnte, dass er eine Greisin mit schlohweissen Haaren in seinen Krallen hielt. Umagu erstarrte, dies war Baakma, die alte Frau aus ihrem Dorf.
Der Xasa liess seine Beute, wenige Schritt über dem Boden fallen, bevor er auf dem Felsenhügel hinter Umagu landete. Die alte Frau knallte vor Umagu auf den Boden und blieb bewegungslos liegen. Mit Horror starrte Umagu zunächste auf den vor ihre liegenden Körper, danach drehte sie sich wütend um. „Was fällt dir eigentlich ein!“ brüllte sie dem Xasa entgegen, der sich inzwischen wieder in den schwarzen Echsenmenschen verwandelt hatte: „Wieso tötest du die einzige Person, welche mir damals im Dorf wohl gesinnt war und bringst sie auch noch hierher?!“
„Umagu, bist du das?“ Die Stimme der alten Frau war nur noch schwach zu vernehmen.
Umagu drehte sich sofort wieder um. Die alte Frau hatte ihre Augen aufgeschlagen, doch lag sie immer noch unnatürlich verkrümmt auf dem Boden.
„Baakma? Meine liebe Baakma.“ Zu mehr Worten war Umagu nicht fähig.
„Dich noch einmal zu sehen, welch ein schönes Erlebnis zum Ende meines Lebens. Ich dacht du wärst an jenem Tag gestorben, als sie dich aus dem Dorf gejagt haben.“ Die Freude war der Greisin sehr gut anzumerken.
„Du wirst nicht –,“ wollte Umagu beruhigen, doch die alte Frau viel ihr ins Wort: „Oh, doch ich werde sterben. Und das ist auch gut so. Ich habe zuviel Leid erlebt. Bringen mich meine Wunden nicht um, so dann mein Gram. Ich mag nicht mehr weiter Leben.“
Umagu war verwirrt. Noch nie hatte sie Baakma sich so gehen lassen gesehen. Sie hatte die Greisin als stete Kämpferin in Erinnerung. „Aber warum?“
„Weist du,“ Baakma musste vor Scherzen eine Pause machen, „einige Zeit, nachdem du aus dem Dorf fort warst, fielen wir in Ungnade der Götter. Ich dachte immer, es wäre die Strafe dafür, dass sie dich in den Tod getrieben haben, und ich nichts dagegen getan hatte. Zunächst erkrankte Makami schwer. Auch wenn sie überlebte, so wir sie nie wieder sprechen können. Anschliessend wurde das Dorf von Unglücken und Naturkatastrophen heimgesucht. Feuer, Untiere und umstürzende Bäume, die Natur musste uns hassen. Und dann nach einem Angriff von Haien in am Strand war alles vorbei. Das Leben kehrte zurück und wir schienen für unsere Taten gebüsst zu haben. Das Korn begann zu spriessen, die Bäume bogen sich unter der Last der vielen Früchte und bald schon hallten Schreie von Neugeborenen durch das Dorf. Und dann kam der heutige Tag. Der Schrecken kehrte zurück. Und wenn es nun so weitergehen sollte, wie es damals war, dann will ich das nicht mehr erleben.“
Je länger die Alte erzählte, desto mehr versank Umagu in ihren Gedanken. Sie mochte sich zwar nicht mehr an alles erinnern, was sie dem Dorf übles gewünscht hat, doch hörte es sich zumindest so an, als ob ihre Flüche in Erfüllung gegangen wären. Ein weiteres Mal drehte sie sich in Richtung Fels um: „Bin ich dafür verantwortlich? Bist du dafür verantwortlich?“
Doch dort, wo noch kurz zuvor der Echsenmensch gestanden hatte, floss nun ein kleines Bächlein den Fels hinunter. An einem grossen Stein wurde es fast vollständig abgelenkt. Nur ein kleines Rinnsal floss geradeaus.
Umagu verstand. Langsam drehte sie sich zur alten Frau zurück. Der Blick der Greisin war inzwischen leblos erstarrt. Aber ihre letzten Worte hallten noch nach.
„Nein, es wird nicht so weitergehen. Das verspreche ich.“ Mit diesen Worten schloss Umagu, der alten Frau die Augen und gab ihr einen letzten Kuss.
Sie hatte sich schon auf den Weg zum Wohnplatz gemacht, als sie nochmals zur Toten und zum Fels zurückkehrte. Das Bächlein war in eine Kuhle geflossen und bildete jetzt einen kleinen Teich. Das Rinnsal hatte sich an einer Steinkante angesammelt und löste sich als grosser Tropfen davon ab, kullerte über ein paar weitere Steine, bevor dieser in den Teich platschte.
„Hoffentlich bald,“ raunte Umagu und machte sich auf den Weg ins Dorf.