Szenen des alltäglichen Lebens

Kapitel Ein typsicher Morgen
An einem Mittag im Lager
Abends am Lagerfeuer
Geschichten am Lagerfeuer

Ein typischer Morgen:

„Noch bevor der Wechsel der Sonnenfarbe den tatsächlichen Tagesbeginn erahnen lässt, verspürt der Wald den bevorstehenden Wandel und erwacht allmählich aus seiner nächtlichen Geräuschkulisse um das Blau des Morgens mit einer Symphonie aus Pfeifen und Trällern, Zirpen und Heulen zu begrüssen. Als ob Arran, die Sonne, nur darauf gewartet hätte, zeigt sie alsbald ihr morgendliches Antlitz um von einem neuen Tag in Tharun zu verkünden.
Dies ist die Zeit, zu der die beiden Brigantai, die Nachtwache geschoben hatten, ein letztes Mal Holz auf den immer noch munter vor sich hin lodernden Feuerstoss im Steinring inmitten des Lagers legen, sich laut gähnend strecken und zufrieden in Richtung ihres Schlafplatzes schielen, den sie bald aufsuchen werden. Zu dieser Zeit strecken auch schon jene Leute die Köpfe aus den Zelten, die durch die Geräuschkulisse geweckt wurden und alsbald stehen schon die ersten immer noch etwas verschlafen wirkenden Personen vor ihren Zelten und schütteln den Schlaf aus ihren Gliedern. Bald schon herrscht reger Betrieb auf dem Platz zwischen den Zelten. Einige Brigantai begeben sich zum Fluss um kurz den Kopf ins kühle Nass zu stecken, in der Hoffnung so die immer noch ihre Gliedmassen beherrschende Müdigkeit loszuwerden. Einige Frauen machen sich geschäftig daran einen grossen Topf mit Wasser auf das Feuer zu stellen, den man im Verlauf des Tages erfahrungsgemäss immer wieder auffüllen muss, da das Wasser für verschiedenste Zwecke benötigt wird.
An einem anderen Ort schnürt eine Frau, deren Haar vom Schlaf noch in alle Richtungen zeigt, einige Pakete mit etwas getrocknetem Fleisch, selbstgemachtem Käse, einem Fladenbrot und ein paar wilden Waldfrüchten. Diese Rationen sind für den Jagdtrupp bestimmt, der sich in einer ruhigeren Ecke für seinen Abmarsch bereitstellt. Noch einmal wird die Ausrüstung überprüft. Schliesslich wird man einen Tag unterwegs sein und wenn man etwas vergessen hat, so kann man es nicht einfach kurz holen gehen. Offensichtlich ist aber alles komplett, die Bündel werden zugeschnürt und obendrauf kommt der vorbereitete Proviant. Noch ein letzter Kuss zum Abschied und der Trupp der Jäger macht sich guten Mutes auf den Weg.
Irgendwo am anderen Ende des Lagers beginnt nun ein Kleinkind zu schreien. Das untrügliche Zeichen dafür, dass es Hunger hat, ist für andere die unangenehme Erinnerung daran, dass sie auch mal aus ihren Fellen kriechen sollten. Offensichtlich hatte Sanyarin das aber schon eher geschafft. Breitbeinig, wie ein Kapitän an Deck, steht er auf der obersten Stufe der Treppe zu seinem Kastenwagen, richtet seine Augen gen Himmel und atmet tief die morgendliche Luft ein, so als ob er mit diesem Ritual die Probleme und Freuden erahnen könnte, die dieser Tag mit sich bringen wird. Grüssten sich die Personen bis anhin nur im Vorbeigehen, so schallen nun Morgengrüsse über den ganzen Platz, welche der Anführer einzeln erwidert.
Während die Kinder ruhig noch etwas länger liegen bleiben dürfen, kriechen nach und nach auch noch die letzten Männer und Frauen aus den Zelten. Es ist Morgen.“

An einem Mittag im Lager:

„Wieder einmal legt eine Frau ein paar Holzscheite ins Feuer, dessen feiner, weisser Rauch in verspielten Formen in den Himmel hinaufsteigt, wo Arran, die Sonne, in gleissend weisser Farbe mit sich selber um die Wette strahlt. Im Schatten des grossen Baumes hat es sich ein Mädchen gemütlich gemacht, das heute die Aufgabe bekommen hat, die Kinder zu hüten. Während die meisten Kleinen den Lichtflecken nachjagen, welche die durch das Laub des Baumes hindurchgelangenden Sonnenstrahlen am Boden zeichnen, so hat es sich ein besonders mutiger Junge zum Ziel gesetzt eines der Chintoas zu fangen. Er ist wohl selber ganz erstaunt, dass er das träge Federvieh so schnell zu fassen bekommt. Als dieses aber nach im schnappt und ihm in den Oberarm beisst, lässt er es laut aufschreiend wieder los. Das sofort herbeieilende Mädchen untersucht theatralisch die gerötete Hautstelle am Arm um dem Jungen, der demonstrativ die Zähne zusammenbeisst , zu versichern: ’Alles in Orchnung, mein kleiner Schwertmeister.’ Diese aufmunternde Kompliment nimmt der Kleine stolz entgegen und der Schock von vorhin ist bereits wieder vergessen.
Ebenfalls einen Aufschrei, wenn auch nur einen unterdrückten, der von einigen leisen Fluchen gefolgt wird, stösst ein der Sohn des Schnitzers aus, der mit einem Messer und einem Stück Holz am Ufer des Flusses sitzt. Eine kleine rote Spur auf dem hellen Holz zeugt von dem Missgeschick das ihm widerfahren ist. Jetzt sitzt er da, wischt von Zeit zu Zeit den blutigen Finger an der derben Stoffhose ab und träumt davon, dass er wie sein Vater in kürzester Zeit auf jedem Klumpen Holz ein beliebiges Kunstwerk erschaffe. Die badenden Kinder, welche ihn mit spöttischen Bemerkungen bedecken, bringt er ganz einfach mit einem finsteren, stechenden Blick zum Schweigen.
Ebenfalls mit einer Klinge beschäftig ist Sanyarin, der vor seinem Planwagen sitzt und seine Schwinge mit einem Leder poliert. Immer und Immer wieder hält er den Stahl prüfend gegen das Sonnenlicht um kurz darauf erneut mit dem Leder der Klinge entlang zu fahren. Dass er dabei von einigen jüngeren Frauen beobachtet wird, bemerkt er gar nicht. In einer kleinen Gruppe zusammensitzend tuscheln Sie, während ihre Finger flink Nadeln durch Stoff und Leder treiben um eine neue Hose, ein neues Hemd zu fertigen. Das Thema ist weniger Sanyarins Waffenpflege, von der sie nichts verstehen und auch nichts verstehen wollen, sondern viel mehr der attraktive Kämpfer an sich, der immer noch ohne Frau ist. Wann er sich wohl entscheiden wird?
Und schon wieder gibt es Lärm. Erneut wird der kleine mutige Junge von einem Chintoa bedroht. Nach seinem misslungenen Fangversuch hatte er damit begonnen die gefiederten Haustiere mit Steinen zu bewerfen. Dies fanden sie nun wiederum nicht so lustig und machen nun zu dritt Treibjagt auf den Jungen, der schreiend Schutz bei den Grösseren Jungen sucht, die im Fluss badend lachend das Spektakel mitverfolgt hatten. Nur eine weitere Szene eines manchmal ziemlich amüsanten Lagerlebens“

Abends am Lagerfeuer:

„Vor noch nicht allzu langer Zeit erst hatte die Sonne ihre blaue Farbe gegen das finstere Schwarz der Nacht eingetauscht. Das Feuer in der Mitte des Platzes lodert wild und verschlingt gierig jedes Stück Holz, das in seinen Rachen geworfen wird. Im unsteten Licht der Flammen sitzt das ganze Briagantailager versammelt vor den Zelten. Die Arbeiten sind abgeschlossen, die Jagdtrupps von ihrer Pirsch mit reicher Beute zurückgekehrt und die Brückenbretter über den Fluss eingezogen.
Immer noch löffeln etliche Brigantai den heutigen Eintopf aus den Holzschalen, der wieder einmal etwas schal schmeckt. Dennoch schöpfen die Frauen mehrmals Nachschlag, den vor allem die von der Jagd ermüdeten Brigantai zu schätzen wissen. Rund ums Feuer beginnen nun wieder die Gespräche derer die bereits fertig gespeist haben. Nicht dass während des Essens die Gespräche verstummt gewesen wären, hatte man doch lautstark darüber debattiert dass ein Jagdtrupp am Tage einen der berühmt berüchtigten, blutrünstigen Felsenflieger durch die Lüfte segeln sah.
Als Mirosh fertig gespeist hat, legt er seine Schüssel zur Seite und nimmt er seine selbstgefertigte Handtrommel hervor, klemmt sie zwischen seine Knie und beginnt mit geschickten Handbewegungen, leise einen eingängigen Rhythmus zu klopfen. Ein Nicken mit dem Kopf in Richtung seiner Frau ist Zeichen genug, dass sie sich von grossen Topf mit dem Nachtessen ins eine Richtung begibt. Inzwischen haben noch zwei weitere Brigantai ihre Trommeln hervorgeholt und sind einer nach dem anderen in den Rhythmus eingestiegen, der jetzt immer lauter wird. Hatte man vergangenen Abend einer Erzählung Sanyarins gelauscht, so scheint heute das Lager in Stimmung für Gesang und Tanz zu sein. Zumindest Mea, Mirosh’s Frau, beginnt nun den Flammen gleich sich zu den immer wilder werdenden Rhythmen zu bewegen. Angespornt durch ermuternden Zurufe und Klatschen, wirft Mea ihre Hände in die Höhe, wirbelt um die eigene Achse, schwenkt ihren Rock und schüttelt ihr langes schwarzes Haar. Doch wenn auch ihre Bewegungen ein Buch mit Geschichten zum Leben eines Feuer füllen könnte, so spricht ihre Mimik ganze Bände. Konzentriert, mal mit finsteren Gesichtszügen, mal mit lieblichem Lächeln erzählt sie denen, die die Bewegungen lesen können, eine Geschichte der Liebe, des Schmerzes, des Lebens und des Todes. Nach und nach bilden sich Schweissperlen auf ihrem Gesicht und in einem letzten fulminanten Finale einem ausbrechenden Vulkan nicht ganz unähnlich verzückt sie ihre Zuschauer noch einmal mit ihrem ganzen Temperament, bevor sich der exstatische Rhythmus wieder beruhigt, sie sich zurückzieht und eine andere Frau beginnt mit ihrem Körper eine neue Geschichte zu erzählen.
Während dem Schauspiel haben sich die Reihen um das Lagerfeuer gelichtet. Die Kinder wurden wenn auch unter deren Protest zu Bette geschickt. Vielleicht späht hier und dort ein Kinderauge durch eine Ritze im Zeltdach nach draussen um die Darbietungen zu bewundern, doch meistens sind die Kinder so müde, dass sie sofort einschlafen, wenn sie ihr Nachtlager bezogen haben.
Die Nacht ist noch jung und Geschichten gibt es noch viele zu erzählen. So schnell wird sich das muntere Treiben um das Feuer im Wald noch nicht beruhigen. Doch nach und nach werden sie müde Gestalten in ihre Zelte begeben um die verdiente Ruhe der Nacht zu geniessen, bis schliesslich nur noch zwei Brigantai übrig sein werden, die das Lager in der Nacht beschützen und das Feuer am brennen halten. Gute Nacht.“

Geschichten am Lagerfeuer:

Am allabendlichen Lagerfeuer findet eigentlich das gesellschaftliche Leben der Brigantai statt. Geschichten, die dort erzählt werden, spiegeln die Vergangenheit, Gegenwart und Zukuft(sabsichten) der Brigantai. Wollte man die Geschichten, die manchmal auch in Form eines Gesanges oder gar eines Tanzes erzählt werden, kategorisieren, so findet man fünf Gruppen von Geschichten:
Legenden: Das überlieferte Sagengut, welches für die Brigantai eine Art Anker zu der Gesellschaft darstellt, von der sie einst ein Teil waren, handelt meistens von lokalen Gegebenheiten. Doch auch die grossen Legenden, die durch die Azarai – die Geistlichen – verbreitet werden sind gern am Lagerfeuer gehörte Geschichten. Woher kommt das Licht, der Wind oder das Leben? Warum gibt es Monster auf der Welt? Welche Helden hatten einst grosse Monster besiegt, die ganze Inseln verspeist haben sollen? Wer ist nun der Tharun, und wie sieht es an seinem Hofe aus? All diese Geschichten, so viel Erfundenes sie auch enthalten mögen, besitzen immer irgendwo einen wahren Kern, der sie glaubhaft macht.
Die Geschichte des Lagers: Diese Geschichten sind für die gemeinsame Identität wohl am wichtigsten. Sie erzählen von der Mühsal vergangener Zeiten, von den Angriffen des Insellords und von der Pionierleistung der Vorfahren. Wichtig ist bei all diesen Geschichten niemanden in Vergessenheit geraten zu lassen, der starb, als er sich für das Lager eingesetzt hatte. Es handelt sich klar um eine Form der Ahnenverehrung.
Die persönlichen Vergangenheiten: Fast jeder Brigantai besitzt eine Vergangenheit, die einer Geschichte würdig ist. Doch nur wenige erzählen wirklich von ihr. Viele haben (eine grösstenteils ungerechtfertigte) Angst, von den anderen für das gerichtet zu werden, was sie getan haben, oder es ist ihnen einfach nur peinlich, was ihnen widerfahren ist. Oftmals erzählen sie aber Bruchstücke ihrer Geschichte, oder sie berichten von Schicksalen, die sie beobachtet haben. Und manchmal, wenn sie allzu sehr bedrängt werden, so erfinden sie einfach eine Geschichte.
Tägliche Erlebnisse: Auch diese Erzählungen sind sehr wichtig, dienen sie doch dem Erfahrungsaustausch. Wer hat welche Jagdgründe entdeckt? Wo gibt es reiche Pilzvorkommen? Welche Gefahren erwarten einen Jäger in bestimmten Teilen des Waldes? Solche und ähnliche Fragen werden tagtäglich wenn auch hauptsächliche in kleinen Gruppen (Interessensgemeinschaften) diskutiert. Natürlich fallen hierunter auch Prahlereien und Irreführungen, welche die Zuhörerschaft necken sollen.
Träume: Eine äusserst gefährliche Erzählungsart, die deshalb höchst selten zur Anwendung kommt. Denn trotzdem, dass es vielen Lagerbewohnern sogar besser geht, als sie noch in der Gesellschaft integriert waren, so träumen doch viele von der Rückkehr zur ‚Normalität’. Manchmal werden solche Themen, vor allem von den Kindern angerissen, die dann zu Bette geschickt werden. Doch diese Erzählungen, die dann bevorzugt in kleinem Rahmen erzählt werden, bergen tiefe Traurigkeit und sind meist nicht allzu euphorisch.